725 Jahre Ruhlsdorf

Predigt Festgottesdienst 725 Jahre Ruhlsdorf 8.6.2024

‚Zeitreise ‘ (Pfrin. Sabine Beuter, Ruhlsdorf)
(es gilt das gesprochene Wort)

Gnade sei mit uns von Gott, der da ist, war und kommt.  

Amen

Liebe Festgemeinde,

Von Heimat als Lebens- und Sehnsuchtsort haben wir in der Lesung gehört. Von Gott als Heimat im religiösen und von der Heimat, dem ganz konkreten Ort, wo Menschen das von Gott gegebene Leben leben.
Durch alle Höhen und Tiefen hindurch:

Und immer war einer, der sagte, die Sonne geht unter.

Und immer war einer, der sagte, fürchtet Euch nicht.

Vieles in den über 725 Jahren Ruhlsdorf ist nicht aufgeschrieben worden oder verloren gegangen: Vor allem die Geschichten der Menschen, die hier gelebt, gearbeitet, geliebt, geglaubt und auch gelitten haben.
Darum gibt es als Predigt eine kleine Zeitreise durch diese sieben Jahrhunderte, um nachzuspüren, wie Menschen in Ruhlsdorf gelebt und geglaubt haben. – Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt . – Es sind frei erfundene Geschichten, doch lassen sich Anhaltspunkte dafür durchaus in der Geschichte Ruhlsdorfs finden.

1299 – (Gudrun Günzel)

Als ich ein Kind war, gab es die Kirche aus Stein noch nicht. Nur eine schlichte Hütte aus Holz, wie die Hütten, in denen wir lebten – nur ein bisschen größer.
Meine Eltern waren von weit her aus dem Westen hierhergezogen, weil in ihrer Heimat Hunger herrschte und sie hier auf ein besseres Leben hofften.
Doch auch hier war es hart. Der Boden karg, sandig, mal trocken, mal sumpfig. Auch wir Kinder mussten auf dem Feld arbeiten, hacken und Unkraut ausreißen. Und die Schweine, Schafe und Ziegen hüten.
In der Kirche wurde nur Latein gelesen und gesungen, was niemand verstand und immer dasselbe war.
Aber es klang feierlich. Wie eine andere Welt.

Als ich schon erwachsen war, sollte eine Kirche aus Stein gebaut werden. Ein Haus Gottes für die Ewigkeit.
Das ganze Dorf musste mithelfen. Steine suchen und heranschaffen, Mörtel rühren, Holz fällen und sägen.
Es dauerte fast zwanzig Jahre, bis die Kirche fertig war. Alle waren glücklich und stolz. Die Messen klangen noch feierlicher – der Gesang hallte so schön.

Eigentlich hatte ich keine Angst vor Gott, wie so viele andere – eher mehr vor dem Tod, der überall lauerte. Manchmal erzählte der Priester Geschichten aus der Heiligen Schrift, wie die vom König David, der auch als Kind Schafe hütete und Psalmen gedichtet hat. So wie: Gott ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führt mich zum frischen Wasser.
Daran habe ich mich immer festgehalten, mein Leben lang. Ich habe Glück gehabt und durfte lange leben, länger als viele andere. Und jetzt, wo ich alt bin, hoffe ich, dass ich in Gottes ewigem Haus weiterlebe. Ich habe doch sein Haus auf Erden hier in Ruervelstorp mitgebaut.

1554 – (Axel Strohbusch)

Als ich ein Kind war, gab es nur einen Glauben. Den päpstlichen. Wir mussten sonntags zur Messe gehen und vorher beichten. Mir fiel immer nichts zum Beichten ein. Der Priester machte uns Angst vor Gott, der ein strenger Richter sei. Und nur, wenn wir spenden, viel beten und fasten, dann wird er gnädig.
Doch dann hörten wir von Unruhen in Wittenberg um einem Mönch Martin Luther. Der hatte in der Bibel herausgefunden, dass Gott kein strenger Richter ist, sondern lauter Liebe und Gnade, weil er alle Menschen selbst in Jesus erlöst hat. Und deshalb schimpfte und wetterte Luther gegen den Papst und den Ablasshandel.
Selbst von Jüterbog her war ein Ablasshändler nach Teltow gekommen und hatte auf dem Markt in allen Farben die Hölle ausgemalt, in die die kommen, die keine Ablassbriefe kaufen. Ich bin selbst in Teltow auf dem Marktplatz dabei gewesen.

Man hörte immer wieder von diesem Martin Luther.
Der Papst und der Kaiser legten ihn in den Bann und die Reichsacht. Aber er hatte keine Angst vor niemanden und mächtige Freunde, die ihn beschützen. Viele wollten lieber seiner Lehre glauben. Auch einige Fürsten, nur der hiesige brandenburgische Kurfürst nicht.
Erst sein Sohn führte 1539 die Reformation ein und es kam ein neuer, evangelischer Pfarrer nach Ruhlsdorf.

Der predigte auf Deutsch und erklärte uns die Bibel. Es war wie eine Befreiung. Ich hatte keine Angst mehr vor Gott, sondern plötzlich ein großes Vertrauen. Ich fühlte mich wie neu geboren. Wir durften beim Abendmahl auch aus dem Kelch trinken. Und Gemeindeälteste wurden gewählt.
Für mich wurde zum Motto, was Luther lehrte: „Allein aus Glauben, allein aus der Hl. Schrift, allein aus Christus und allein aus Gnade.“ Oder wie es der Apostel Paulus geschrieben hatte: „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus.“ (1 Kor3,11).

1699 – (Sabine Beuter)

Als ich ein Kind war, tobte ein schrecklicher Krieg in Europa. Weil sich die Herrschenden nicht über den Glauben einigen konnten. Es gab ja jetzt eine protestantische Kirche neben der alten Katholischen – und beide bekämpften sich. Aber in Wirklichkeit ging es mehr um Macht und Einfluss der Herrscher. Wer in Europa das Sagen hat. Und sie benutzten die Religion dazu.

Der Krieg dauerte 30 Jahre. Und er war furchtbar. Immer wieder zogen Truppen durchs Land, töteten, vergewaltigten, plünderten, brannten ganze Dörfer ab. Ständig lebten wir in Angst. Hunger und Krankheiten breiteten sich aus. Ich habe die Pest überlebt. Aber meine Familie und viele aus meinem Dorf nicht. Das verstand ich als Fingerzeig Gottes: Dass ich weggehen muss aus meinem zerstörten Dorf und ein neues Leben anfangen. Ich lernte einen Pfarrer kennen, der auch alles verloren hatte, aber nicht seinen Glauben. Wir heirateten.
Da hörten wir, dass in Ruhlsdorf wüste Bauernstellen zu vergeben waren und ein neuer Pfarrer gesucht wurde.
Die Landschaft war schon anders als in meiner Heimat, der Uckermark. So flach. Doch das war gleich. Hauptsache: ein Dach über dem Kopf.

Das Leben war schwer. Der Ertrag vom Pfarracker und die Abgaben reichten kaum zum Sattwerden. Die Nachbarn kamen alle von woanders her. Es gab erst viel Misstrauen, Neid und Streit. Später wurde es besser.
Unser erstes Kind starb bei der Geburt und ein weiteres kurz danach. –
Meine Zuflucht war die schöne Kirche hier in Rulestorff. Oft ging ich hinein, um zu beten, und um heimlich zu weinen, damit es niemand sah. Und wenn die Sonne am Sonntagmorgen im Gottesdienst über den Altar aufschien, dann spürte ich, dass Gott neue Kraft gibt wie die Sonne. Genauso, wenn das neue Lied von Paul Gerhard gesungen wurde: Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt.“ Und über dem Bogen oben vor dem Altarraum stand geschrieben: „Fürchte Dich nicht.“ So viel konnte ich gerade lesen. Das reichte.

1954 – (Karin Kernbach)
Als ich ein Kind war, fanden die Einsegnungen immer in Stahnsdorf statt. Wir hatten ja schon lange keinen eigenen Pfarrer mehr in Ruhlsdorf. 1903 wurde aber der erste Konfirmationsgottesdienst seit langem wieder in unserer Dorfkirche gefeiert. Und ich wurde dabei eingesegnet. Die Kirche war überfüllt von Andächtigen. Die Orgel, erst wenige Jahre alt, brauste gewaltig. Mein Konfirmationsspruch lautete: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ ( – Joh 16,33 )
Angst war damals ein Fremdwort für mich. Die Welt schien uns offen zu stehen. Die Wirtschaft brummte und Berlin platze aus den Nähten. Die Bauern im Dorf verdienten gut auf den Märkten in der Stadt und bauten reihenweise neue, größere Häuser. Die technischen Neuerungen hielten auch in Ruhlsdorf Einzug: Gasanschluss, Straßen-Laternen, Wasserleitung, eine Poststation, den ersten Telefonanschluss, eine neue Schule mit Heizung und auch die Kirche bekam eine Heizung.
Doch dann brach der 1. Weltkrieg aus. Nach der Begeisterung am Anfang zog bald Trauer ins Dorf ein. Die ersten Männer waren gefallen oder kehrten schwer verwundet zurück. Auch mein Verlobter fiel. Ich habe keinen anderen mehr geheiratet.
Als der Krieg vorbei war, war die Welt eine andere. Den Kaiser gab es nicht mehr, dafür eine Republik – sogar die Frauen durften wählen und trugen Bubiköpfe und kürzere Röcke. Die ersten Autos, Lastwagen und Traktoren tauchten im Dorf auf.
Aber erst gab es die spanische Grippe und Hungerjahre, dann Inflation und Arbeitslosigkeit. Und vielen gefiel die Demokratie nicht, sie sehnten sich nach einer starken Hand oder dem Kaiser zurück.
Und als dann Hitler an die Macht kam, ahnte ich, dass das nicht gut enden würde. So hatte es auch unser mutiger Pfarrer Böhm gesagt. Den haben sie bald verhaftet. Wie auch Kommunisten und Sozis. – Dann verschwanden die Juden, unsere Viehhändler. Aber offen dagegen etwas zu sagen, habe ich mich nicht getraut. Die Angst, selbst verhaftet zu werden, war größer.
Dann kam der 2. Weltkrieg. Erst weit weg und dann immer näher. Wieder Angst, Trauer, Bomben und Hunger.
Seitdem ist die Welt wieder ein andere – wir gehören nun zur sowjetischen Besatzungszone. Was jetzt werden wird? Deutschland ist geteilt und wir sind hier ein sozialistisches Land. Manche sind davon begeistert. Aber die Bauern fürchten um ihre Höfe und die Kirche wird es schwer haben.
Ich bin jetzt schon alt. Ich habe so viel Veränderung, Krieg und Elend erlebt und dabei immer mehr meinen Konfirmationsspruch verstanden: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Diese Worte haben mich durch alles getragen und werden mich auch weitertragen.

2024 – (Andreas Schadow)

Als ich ein Kind war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Mauer einmal fallen würde. Aber es hat mich auch nicht so sehr interessiert. Ich hatte eine schöne Kindheit. Das Dorf war meine Welt. Hier konnten wir uns frei bewegen, toben und spielen. Und manchen Blödsinn anstellen. Vieles wurde hier auch nicht so ernst genommen, wie es die Partei vorschrieb.

Die Kirchengemeinde war wie eine große Familie für mich. Ich ging in die Christenlehre und später in die Junge Gemeinde. Es gab auch schöne Ausflüge und Zeltlager für die Älteren.

Doch dann durfte ich nicht studieren und den gewünschten Beruf ergreifen, weil ich nicht an der Jugendweihe teilgenommen hatte und nicht in der FDJ war, sondern mich konfirmieren ließ.
Ich haderte mit dem Staat und mit der Kirche. Es rumorte schon seit einiger Zeit in unserem Land. Die Unzufriedenheit wurde immer größer.
Dann kam in der Sowjetunion Gorbatschow an die Macht. Glasnost und Perestrojka. Ich schöpfte Hoffnung. Es gab immer mehr Rufe nach Veränderung und die Montagsdemos.
Und dann fiel die Mauer. Plötzlich und unerwartet.
Ich konnte es kaum fassen. Wir waren überglücklich.

Aber ich verlor bald meine Arbeit, der Betrieb wurde abgewickelt. Viele teilten dieses Schicksal. Das war hart, vor allem für die Älteren.
Ich war noch jung und ein wenig abenteuerlustig und ging in den Westen, nach Süddeutschland, wo es gute Arbeitsstellen gab. Aber dort hieß ich nur der „Ossi“ und hatte Heimweh.

Also kam ich nach ein paar Jahren zurück nach Ruhlsdorf. Zur Kirche habe ich nicht mehr viel Kontakt, gehe eigentlich nur noch zu Weihnachten hin. Mir fehlt einfach die Zeit. Das Leben ist so anstrengend geworden.

Ich kenne einige, die sich in der Kirche engagieren und nicht wissen, wie es weitergehen wird. Denn die Gemeinde hier schrumpft, es kommen kaum Jüngere nach und wahrscheinlich wird es bald eine Fusion geben.
Das schmerzt auch mich. Aber ich denke, der Glaube wird trotzdem weiterleben. Mir hat er oft Kraft gegeben, wie es in meinem Konfirmationsspruch heißt:

„Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Liebe und der Kraft und der Besonnenheit.“

 Schluss (Sabine Beuter)

Liebe Festgemeinde,

Und immer war einer, der sagte, die Sonne geht unter.

Und immer war einer, der sagte, fürchtet Euch nicht.

Zwischen diesen beiden Polen haben Menschen in Ruhlsdorf gelebt und geglaubt. Leben immer noch dazwischen – nach und in den Krisen und Katastrophen der letzten Jahre. Vielen macht die Zukunft Sorgen.
Auch Ruhlsdorf hat sich verändert: es ist kein klassisches Dorf mehr, Einheimische und Zugezogene leben in verschiedenen Welten.
Der Prophet Jeremia schrieb vor 2700 Jahren an die jüd. Gemeinde im Exil in Babylon: „Suchet der Stadt Bestes!“. – Erstaunlich, ausgerechnet in der Fremde sollen sie der Stadt Bestes suchen und für sie beten? Der Stadt, in der sie fremd sind, die Stadt der Besatzer? Ich denke, dies ist das Geheimnis, der Stimme, die sagt: Fürchtet Euch nicht!“ Sich nicht nach dem gestern zurücksehen und nach einer starken Hand rufen, sondern sich einsetzen für den Ort, an dem man lebt, das Beste dafür und darin suchen: zum Wohl aller, für alle – weil Gott alle Menschen mit gleicher Würde geschaffen hat.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass morgen nicht nur ein das EU Parlament gewählt wird, sondern hier auch Kommunalwahlen sind. Eine gute Möglichkeit, mit Verantwortung zu übernehmen, für diesen Ort und für die Welt, für die Zukunft. – Manche Stimmen in diesem Wahlkampf erinnern an vergangene und überwunden geglaubte Geschichte. Rechts- und linksextremes Gedankengut macht sich wieder breit.
Wir haben die Wahl…

Denn: Gott hat uns nicht gegen den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Und immer war einer, der sagte, die Sonne geht unter.

Und immer war einer, der sagte, fürchtet Euch nicht.

So bewahre uns und unsere Herzen der Friede Gottes, größer als alle Vernunft, in Christus Jesus. Amen.